Schlußteil der Ratschläge des Philosophen Acomon an den jungen Prinzen Nerrio

„Denn wisse, o Fürst, dass die Philosophen die Menschen mit vielerlei Maß gemessen ; eins ums andere Mal die Menge der Einzelnen in große und kleine Gruppen teilend , welche sich im Großen und Kleinen ähnlich oder gar gleich verhaltend die nämlichen Bahnen durchs Leben ziehen. Trotzdem nun die Stimmen der Philosophen, die sich aus der Ferne belauscht einem Chore gleich erheben, bei genauerem Hinhören oft genug in abweichende oder gar widerstrebende Meinungen zerfallen, herrscht doch im wesentlichen Einigung darüber, wie die Wege der Sterblichen zu bedenken seien. Der eigentliche Kern- oder wie manche auch sagen- die Seele des Menschen liegt in der unauflöslichen Umarmung seiner drei Vergänglichkeiten, welche die Sterblichkeit als Unabänderlichste krönt und beschließt. Also steht alles Wirken und Planen des Einzelnen begrenzt und verloren in der Zeit; und wohl sei demjenigen, der dies- lange in seinem Herzen tragend – endlich wahrhaftig begreift und alle Trauer abstreifend sein Vergehen heiter erkennt. Denn fürwahr besteht das höchste dem Menschen erreichbare darin, die kurze ihm vergönnte Zeit mit seinem in Harmonie verwirklichten Innersten zu erleuchten. Jedoch gelingt diese demütige Vervollkommnung des eigenen Seins nur den wenigsten jeder Generation; denn so wie den einen die dem Menschen eigene Hybris ein unverrückbarer Riegel ist, so versinken doch so viele der wenigen, die ihre Sterblichkeit wenigstens zum Teil begreifen, im grundlosen Morast der Melancholie. Während die ersteren nun ihr Leben lang in Samt und Seide gekleidet einher stolzieren und Anmaßung und Verachtung in ihrer Rede führen, verdämmern die letzteren ihr einziges und so erfüllbares Leben mit vielerlei Geseufze und freudlosen Gesängen in lichtlosen Häusern. Beide dieser Gruppen werden von den Großen zutreffend als am Geist gescheitert bezeichnet; denn sie werden niemals ihr Wesen begreifen und mit wahrem Leben erfüllen können.- Der größte Anteil des Menschenvolkes jedoch kümmert sich wenig um Geist und Erkenntnis; sie leben dahin, Freud und Leid ergeben so ertragend, wie das Schicksal es ihnen zuweist, darin den Tieren des Waldes und der Felder nicht unähnlich. Jedoch- höre an dieser Stelle meine Worte genau, o Prinz !- wäre es sowohl ein großer Fehler als auch eine noch größere Sünde, diese Menschen ihrer Art wegen zu verachten, denn- wie ich euch bereits bedeutete- besteht die Essenz des Menschseins darin, das jedem Einzelnen anvertraute Leben durch Verwirklichung seines Innersten zu erfüllen. Und es ist wirklich so- auch wenn Euch meine Worte in Erstaunen und Verwunderung versetzen mögen-, dass viele dieser einfachen Seelen allein durch die Kraft ihrer unverdorbenen Herzen ein größeres Maß an Weisheit anzusammeln vermögen als manch Denker in vielen Jahren einsamen Studiums. Denn erreicht es ein Mensch sich Demut, Zufriedenheit oder Sinn für Schönheit anzueignen, so hat er damit mehr Reichtümer erlangt, als in diesem Leben zu erhoffen stehen. Diejenigen, die jedoch auch ihr Herz nicht zur Entfaltung zu bringen vermögen, bilden das ungute Heer der Geizhälse, Mechaniker und Bürokraten, welche Schönheit verständnislos verachtend in grauen und braunen Gewändern auf freudlosen Wegen einherwandeln und- gänzlich in ihrem Menschsein versagend- ohne jedwede Erkenntnis ihrem somit sinnlosen Ende entgegengehen. Aber, mein Prinz, da ich Euer starkes und gutes Herz kenne, befürchte ich wenig für Euch aus dieser Richtung. Jedoch rate ich Euch mit aller Ernsthaftigkeit, derer ich gebiete: Meidet , mein Fürst, in Eurem Leben diejenigen Häuser, aus denen traurige Musik weht, und diejenigen Menschen, die Euch tief im Inneren berühren ob der Hoffnungslosigkeit ihrer Blicke. Denn es ist merkwürdig, aber wahr, dass gerade diejenigen, die so knapp vor der größten Erkenntnis gescheitert sind, am meisten Trauer über sich und alle anderen zu bringen vermögen.“